Das Teelicht (Boris) |
Es war im Dezember 2011 – Meine Vorgesetzten kamen ins Büro und verkündeten, dass Tina unsere neue Kollegin sein würde.
Tina – bei mir war es Abneigung auf den ersten Blick. Vielleicht auch bei ihr, ich weiß es nicht. Naja, das kann ja heiter werden, dachte ich mir.
Kurze Zeit später nahm Tina ihre Arbeit bei uns auf. Zu Beginn hatte ich nicht soviel mit ihr zu tun, denn wir hatten unterschiedliche Aufgaben. Zum Glück, dachte ich mir.
Es kam der Januar. Eines Abends – ich war bei meinem Lehrer zu Besuch – drückte mir dieser 2 Bücher in die Hand: „Kannst Du mitnehmen, wenn Du möchtest, schenke ich Dir.“
An das eine Buch kann ich mich gar nicht mehr erinnern, aber an das andere. Es hieß „Die Weisheit des Diamanten“ von Geshe Michael Roach.
Nach 10 Seiten war mein Interesse geweckt, nach 60 Seiten war ich hellwach und im weiteren Verlauf des Buches fielen in mir einige Dinge an seinen Platz und mir eröffnete sich nach 10 Jahren Auseinandersetzung mit dem Buddhismus eine völlig neue Seite und Verständnis von Buddhas Lehre und speziell der Leerheit. Hier hatte ich nun einen sehr alltagstauglichen Zugang eröffnet bekommen.
Es folgte das „6-times-book“: Ich begann es im Februar und mir wurde klar, dass meine Abneigung gegen Tina eine äußerst unangenehme Sache für mich war. Ich hörte mich manchmal schnippische Dinge zu ihr sagen und bei Unterhaltungen mit ihr spürte ich Anspannung.
Langsam reifte in mir der Gedanke, daraus ein Karmic-Management-Projekt zu machen. Ich notierte mir morgens Dinge in mein Büchlein wie „Schauen, was Tina benötigt“ und ich fing an, ihr mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Zum Beispiel zündete sie sich hin und wieder morgens bei Arbeitsbeginn ein Teelicht an und stellte es sich in einem Glas auf ihrem Schreibtisch.
Das gefiel mir und eines morgens brachte ich ihr ein Teelicht, zündete es an und stellte es ihr auf ihrem Schreibtisch. Sie war sichtlich erstaunt, erfreut und bedankte sich.
Einige Zeit später trafen wir uns in der Teeküche und sie sagte zu mir, dass sie sich manchmal ein Teelicht anzündet, weil sie an jemanden denke. Dabei wirkte sie ganz weich und berührt und mir fiel ein, dass sie vor Wochen mal angedeutet hatte, dass vor einigen Jahren eines Ihrer Kinder gestorben sei.
Somit war klar, dass sie das Licht in Gedenken an ihr verstorbenes Kind leuchten lässt.
Das berührte mich und dass sie ausgerechnet mir das erzählte, lies sie mich in einem anderen Licht erscheinen. Ich nahm sie das erste Mal als Mensch war und nicht als Tina, deren Anwesenheit mich stört.
Ich intensivierte mein KC-Projekt „Tina“ und erfuhr zum Beispiel, dass sie gerne singt und mit einer kleinen Frauenband Auftritte gibt. Mittlerweile stellte ich ihr nicht nur morgens ein Teelicht hin, sondern begann, ihr ganz bewusst Tee und Kaffee zu kochen, nachdem ich ihre Vorlieben kennengelernt hatte.
Dann passierte es: Meine Abteilung mietete eine größere Etage an und wenige Wochen später kam meine Vorgesetzte in mein Büro und fragte mich: „Boris, hast Du etwas dagegen, wenn Tina ab nächster Woche in Deinem Büro sitzt?“. Ich schaute sie an und mir wurde klar, dass es hier nur eine Antwort gab: Ein freundliches „Nein, ich habe nichts dagegen“.
Da saß sie also am folgenden Montag vor mir in meinem geliebten großen Büro, dass ich bisher ganz für mich allein hatte. Mein KC-Projekt spitzte sich zu und jetzt hatte ich noch mehr Gelegenheit zu schauen, wie ich Tina unterstützen konnte. Und auch weiterhin galt es, ihr morgens ein Teelicht auf den Tisch zu stellen, bewusst Heißgetränke für sie mitzukochen und selbstverständlich wurde sie in Erkältungsfällen mit guten homöopathischen Mitteln versorgt.
Vor meinen Augen vollzog sich Stück für Stück eine Verwandlung: Ich erkannte, was für eine lebenserfahrene und starke Frau sie ist und wie schnell sie die Bedürfnisse und Nöte unserer Kunden erkennt und dementsprechend handelt. Beeindruckend.
Eines Tages, es muss zum Herbstbeginn gewesen sein, sprach sie mich über den Schreibtisch hinweg an und mir war sofort klar, dass das, was sie nun sagen würde, etwas ungewöhnliches sein würde.
„Boris, Du machst doch Familienaufstellung, oder?“
„Ja“, antwortete ich.
„Eignet sich das auch zur Trauerbegleitung?“
Ich dachte nach und meinte „Ja, das denke ich schon“.
-Pause-
„Kannst Du mir da jemanden empfehlen?“
Wieder dachte ich nach und ich empfahl ihr den Menschen, bei dem das Familienaufstellen gelernt habe.
„Weißt du“, sagte sie „meine Tochter ist schon lange dabei, ihre Trauer zu bewältigen und sich Hilfe dabei zu holen. Ich dagegen konnte das die letzten drei Jahre nicht“.
Sie sprach also vom Tod ihres Sohnes und davon, dass sie sich Unterstützung holen möchte in ihrem Trauerprozess.
Abermals war ich berührt von ihrer Offenheit und konnte es kaum fassen, dass sie ausgerechnet mich um Rat in dieser Sache fragt. Nach drei Jahren wollte sie sich nun mit ihrer Trauer auseinandersetzen!
Als ich ein paar Tage später ins Büro kam und einen Tee kochen wollte, stand schon eine Kanne bereit: Tina hatte bereits Tee gekocht! Teelichter waren auch schon angezündet. Es wurde richtig gemütlich in unserem Büro. Seitdem kam ich gar nicht mehr dazu, morgens Tee für Sie zu kochen oder ihr ein Teelicht hinzustellen, denn das hatte sie mittlerweile übernommen.
Wenige Wochen danach rief mich meine Chefin zu sich ins Büro. Sie sagte zu mir: „Tinas Vertrag wird wohl nicht verlängert werden, ich bin nicht zufrieden mit Ihrer Arbeit“.
Ich hörte mir ihre Begründung an und merkte ein Gefühl von Irritation in mir.
Zuhause dachte ich darüber nach. Ich war mir sicher, dass ich noch vor einem halben Jahr insgeheim erleichtert gewesen wäre über die Nachricht, dass Tina bald gehen muss. Nun war ich es nicht mehr und ich schrieb meiner Chefin eine respektvolle Email, in der ich mich für Tina einsetzte und ihre aus meiner Sicht gute Entwicklung hervorhob, allerdings ohne mich in die Personalentscheidung meiner Vorgesetzten einzumischen. Daraufhin hatte ich nochmal ein Gespräch mit meiner Chefin. Sie konnte meine Argumente nachvollziehen und wollte nochmal über ihre Entscheidung nachdenken.
Um die ganze Geschichte nicht allzu lang werden zu lassen: Tina hat ihren Arbeitsvertrag letztendlich nicht verlängert bekommen. Gestern war ihr letzter Tag und wir verabschiedeten uns sehr herzlich voneinander.
Mein erstes großes Karmic Managment Projekt geht zu Ende und mein Verhältnis zu einem ehemals unliebsamen Menschen hat sich über ein Jahr in sein Gegenteil verwandelt.
Danke Tina!
Bildnachweis:
oben rechts:"Im Cafe", Fotograf: Fotoservice777, www.piqs.de, Some rights reserved
unten links: "Der Ausreißer", Fotograf: Singa, Quelle: www.piqs.de, Some rights reserved.
Erstellt am: 16.12.2012, Zuletzt geändert am: 16.12.2012
ZurückKommentare
Danke Boris | von Gast am 01.02.2013 um 18:36 |
Dein Beitrag hat mein Herz berührt. Es lässt dich grüßen. | |
Mitten aus dem Leben | von Gast am 02.02.2013 um 21:08 |
Danke fürs Teilen deiner Geschichte! | |
ja, diese Welt gefällt mir! | von Gast am 17.07.2013 um 10:45 |
Lieber Boris. Wirklich cool, sehr berührend und super gut gemacht! | |
Danke Boris | von Gast am 18.03.2018 um 17:31 |
sehr berührend, an deinen Betrag werde ich mich bei meinen nächsten Begegnungen erinneren. Sehr schön geschrieben, vielen Dank | |
Danke Boris | von Gast am 09.10.2018 um 11:28 |
Herzlichen Dank für diese anrührende Lebensgeschichte, die in vielen Büros so oder so ähnlich im Anfang geschrieben sein könnte. Was Du dann daraus gemacht hast und die Situation gedreht hast, lese ich mit Respekt, Anerkennung und höchster Achtung. Diese Vorbilder lass uns teilen und Mitgefühl praktizieren. |
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